Montag, 19. September 2011

Hängen lassen?






Narben sind hässlich. Verschwinden nicht, erinnern. Erinnern an den Kampf mit einem Hai oder an den Einsatz im Krieg gegen das Böse. Oder einfach nur an einen Sturz. Und dann gibt es Narben, die sieht man nicht. Damit meine ich nicht den Psychokram, sondern Narben, die nicht zu sehen sind. Wie bei Steffi.

Steffi hat die Zeit vergessen. Die Zeit, als sie Jahr für Jahr in der Klinik lag. Angefangen hat das mit 16 Jahren. 
Man spaltet ihr den Oberkiefer. Er soll größer werden, der liebe Gott hatte bei Steffi gespart. Steffis Besuch im Krankenhaus steht kreidebleich vor ihr, während unbemerkt und unentwegt Blut aus der Nase läuft. Ihre einzige Sorge, die taube Zunge. Die Zunge kommt zurück, die Wangen erst, als die nächste Operation an die Türe klopft. Diesmal soll der Oberkiefer in Scheiben geschnitten und nach hinten gesetzt werden, und nach oben. Oberkiefer eben. Nach einer fünfstündigen Operation wacht sie auf der Intensivstation auf. Die Familie darf nach fünf Minuten gehen. Sie hat keinen Kopf dafür. Ihr gesamtes Gesicht ist umbunden, Schläuche aus Nase und Mund. Ihre Augen weit aufgerissen. Dann eine Woche geschlossen. Eine Woche des Wartens. Ihre beiden Kiefer passen nicht aufeinander. Es hatte während der Operation Komplikationen gegeben. Sie ist innerhalb weniger Minuten sehr stark angeschwollen. Liegt vielleicht daran, dass Steffi gegen Soja allergisch ist und die Narkose aus Propofol besteht. Das wiederum eine einzige Sojasuppe ist. Eine Woche später wartet sie auf eine Wiederholung der Operation. Ihr Mund ist mit Draht zugebunden, wird gleich wieder aufgerissen werden. Die Ärzte der anderen Kliniken streiken und so kommt sie erst gegen Mitternacht auf den Tisch. Sie verabschiedet sich von dem Leben.

Viele Monate kann sie nicht sprechen, mag nicht sprechen. Ihr Mund bleibt geschlossen. Sie lernt das Sprechen, das Darübersprechen.

Die vielen Schmerzmittel reißen ihr nicht nur an der Seele sondern auch an den Haaren. Einmal im Jahr ist Weihnachten, einmal im Jahr sieht Steffis Kopf aus wie eine kugelrunde, fette Christbaumkugel.
Nach der vierten Operation - Steffi wacht auf. Sie ist den ersten Tag wieder zuhause, möchte aufstehen, stürzt. Versucht sich aufzustellen, fällt. Ihr linkes Bein kann sie nicht tragen, die linke Hand nicht stützen. Sie versucht sich hinzustellen, fällt. Nach ein paar Minuten ist das Schauspiel vorbei.

Die Zeit heilt alle Wunden.

Sie blicke in den Spiegel, zeigt sich die Zähne. Ihr linker Mundwinkel zieht sich nach unten, der rechte lacht. Armdrücken kann sie nur mit rechts, der linke Arm ist lächerlich schwach. Wer macht sich schon einen Kopf, warum das so ist.

Die Nase spürt sie wieder, ihre Lippen sind aufgetaut, die Partie unter dem linken Auge ebenfalls.
Nur ihr Mundwinkel schweigt.

Marzipan lächelt. Und wenn man genauer hinsieht, lächelt jeder Mundwinkel für sich alleine. Der eine mehr, der eine weniger.


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