Donnerstag, 30. September 2010








Es gibt Nächte.


Es gibt Tage, die möchte man verschlafen. Den Wecker umdrehen und die Sonne ausknipsen. Und es gibt Nächte, in denen man schlafen möchte. Die Sterne im Tee auflöst und vorsichtig in die Augen träufelt, bis diese müde und schwer werden. Seit Stunden versuche ich in den Kissen meines Bettes zu verschwinden. Entdecke dabei alte Vorhaben und neue Zweifel. Ich werfe eine Angel nach Träumen aus, aber sie beißen nicht an. Keine dicken Fische nur kleine schillernde Gestalten ziehe ich an Land. Sie sind wunderschön und sehr flink. Binnen weniger Sekunden entwischen sie mir und gleiten von meinen Handflächen. Mit den dicken Fischen war es einfacher. Bekanntes erfordert kein Feingefühl, Feines und Zerbrechliches muss neu entdeckt werden. Ich ziehe mir die Decke über die Nase. Zeit für Songs, die festgehalten werden wollen. Zeit für ein Nachthemd, das sich anschmiegen möchte. Einfach Schlafenszeit.




heroes wear haix.






Simone kommt zur Türe herein.

    Oh..
     -Hallo!
    Hallo Maria!
Simone kommt zu meiner Türe hinein.
    Du hast neue Schuhe?
Simone wirft einen Blick auf die Schuhe im Flur.
     Du meinst die großen Schwarzen?
    Hm.. ja.
Ich lache. Sie lächelt gequält.
     Das sind meine neuen Arbeitsschuhe.
    Ah!
     Ich habe noch nie so viel Geld für so hässliche Schuhe ausgegeben.

Simones Miene entspannt sich. Sie lacht nun erleichtert. Dann lachen wir gemeinsam.

Dienstag, 28. September 2010

Stuttgart 21, stirb!



"Die reißen meinen Bahnhof ab!" Gerne möchte ich mich vor einen der Bagger werfen- würde nur einer vorbeirollen. So winke ich vorsorglich den Erinnerungen und baue auf laute Demonstranten. Die Heimat stirbt zuletzt. Verletzt verlasse ich Stuttgart. Wie gut, dass Berlin schon einen neuen Bahnhof hat.

(Kommentar auf www.zeit.de gesehen.)

Montag, 27. September 2010






...war nur 'ne Woche untergetaucht.


Sonntag, 26. September 2010

Beifahren.



Ich gehe nicht aber fahre mit jedem. Nicht abgefahren für die heutige Zeit. Zeit ist Geld und kein Geld bedeutet genügend Zeit. Dann nehme ich die sieben Stunden Autofahrt und gebe einem Unbekannten mein Vertrauen. Dabei traue ich nur mir selbst. Für mich bin ich der beste Autofahrer der Welt, für die anderen der weltschlechteste Beifahrer. Noch ein Wort und du steigst aus. Ich schlage dann vor, selbst fahren zu dürfen. Fahren statt fürchterlicher Angst. Als Beifahrer ist meine Gesundheit aufs äußerte gefährdet. Ich reagiere allergisch auf Späthochschalter und bei Motorabwürgern droht der anaphylaktische Schock. Bei Mutter ziehe ich Mundhalten dem angedrohten Kofferraum vor. Doch auch meine pantomimischen Fähigkeiten sind als Beifahrer nicht zu unterschätzen. Im Minutentakt tippe ich auf den Schalthebel, um Mutter zum Schalten zu animieren. Mit Hilfe meiner Arm- und Handbewegungen könnte ich sogar einen A380 sicher vom Berliner Hauptbahnhof zur Sonnenallee durch die Straßen lotsen. Eine Zeit lang hielt ich mit harter Kritik hinterm Berg und versuchte es mit Hilfe von komödiantischen Einlagen. Mutter bremst bei Ampeln gerne sehr abrupt ab. Ich nahm den ganzen Schwung mit (übertrieb natürlich schamlos) und knallte mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett. Nächste Ampel, nächster Aufprall. Bei der kommenden Ampel war jedoch kein schauspielerisches Talent mehr nötig, da Mutter völlig unerwartet eine Vollbremsung hinlegte. Ein Schädelhirntrauma konnte danach ausgeschlossen werden und das Aus meiner Aktionen war eingetroffen.
Da der Zug zu teuer ist und ich auf die Mitfahrgelegenheit zurückgreife, muss ich meine beifahrerischen Auswüchse zügeln. Meine Kritik hängt von einigen Faktoren ab. Schöne und schnelle Autos stimmen mich gnädig, gut aussehende und wohlriechende Fahrer werden von mir eher angesehen als angegangen und interessante Gespräche lenken mein Interesse an Fahrfehlern auch mal schnell zu Farbfeldern. 
Letzte Woche dann der Optimalfall. Von Berlin nach Stuttgart im Audi A4 für 15 Euro. Der Fahrer war kein Rechengenie aber seine Rechnung ging voll und ganz auf. Du fährst 350 Kilometer und bist mit 15 Euro dabei. Dabei sein war hier alles. Nach 200 Kilometern gab der Fahrer zum Besten, dass er nachblind sei und so gut wie nichts sehen würde. Mein Beifahrerherz rutschte unter den Sitz und wenige Minuten später saß ich auf der Fahrerseite. Die letzten 500 km donnerte ich durch die Republik und setzte mich dann gegen 3 Uhr morgens in Stuttgart ab. 
Gerade sitze ich in einem neuen VW Jeep, der Fahrer männlich, 28, gutaussehend und wohlriechend. Gespräche gebraucht es nicht, seine Augen im Rückspiegel funkeln auch ohne Worte. Ich hatte einen Faktor vergessen. Vielleicht ist es der Vollkommenheitsfaktor. Wir hören Radiohead. 




Samstag, 25. September 2010







HERZ_

H sagt_ is ne scheiß Schule.
D sagt_ Blut.

G sagt_ klappe!!!
D sagt_ is gar keine Scheibe.
L sagt_ kann zerreißen wenn man es verletzt.



Donnerstag, 23. September 2010






Sie brauchen nicht halten heute. Keine Streife passiert die Streifen. Alleine sein und alleine bleiben, im Schein der Laterne auf dem Zebrastreifen. Sie tanzt für das Leben, für die Sterne. Siehst du aus dem Fenster, sich etwas bewegen? Drehen? Ein paar Sprünge und sie ist verschwunden. Verschluckt von der Dunkelheit. Es warn nur Sekunden. Eine verlassene Bühne. Träumst du? Reibst dir die Augen. Die Tänzerin ist fort. Vielleicht war sie nie da. Während du den Vorhang zuziehst im Mondenschein kehrt sie lächelnd heim.



Dienstag, 21. September 2010








Ich würde gerne Geige spielen. Eine Geige die man hört, deren Töne man fangen kann. Ich möchte dies lieber als Fangenspiel. Lass mich Schwingungen erzeugen. Kein Kratzen mehr auf toten Ästen. Ich möchte, dass du mich hörst, mein Spiel fühlst und nicht erahnst. Ich möchte, dass meine Bewegungen Sinn ergeben und eine Melodie in den Himmel steigt. 



Sonntag, 19. September 2010





Ja, ich habe nun zwei Wochen frei. Frei haben bedeutet frei sein und sich frei fühlen, unter freiem Himmel zu liegen und Freiheit zu spüren. Wer mich sucht, findet mich auf einem der Heuballen da draußen. Es ist übrigens Platz für zwei. Sei ruhig so frei...




Samstag, 18. September 2010

die heimat ruft.


Der Mensch im Bein.


Ich blicke auf den Op- Plan. Heute Morgen hatte ich ihn nur flüchtig überflogen, da ich doch etwas verspätet und gehetzt durch die Schleuse stolperte. Und nun beginnt mein Herz zu schlagen. Ganz schnell, ganz aufgeregt, es springt fast aus mir heraus. Amputation linker Unterschenkel. Da steht es schwarz auf weiß. Phillip sieht zu mir rüber, lacht: „Kieckste an, wa?“ Ich nicke stumm. 
Unter der Maske ist es warm fast stickig, während es im Op immer kühler zu werden scheint. Ich blicke in immer kürzer werdenden Abständen Richtung Schleuse. Wann kommt er? Als ich ihn sehe verlasse ich den Op durch die Hintertür. Ich möchte ihm nicht in die Augen sehen, ihm keinen Zugang legen und dabei fest seine Hand halten. Er soll ohne mich in die Narkose gehen. Gerade gibt es keinen Platz für die gefühlvolle Maria. 
Sein Fuß ist verbunden, ich erahne, dass sich totes und vergiftetes Gewebe darunter befindet. Noch sitze ich. Frage mich, wie es sich wohl anfühlt, als ganzer Mensch in einen Raum gefahren zu werden und mit einem Körperteil weniger herauszukommen. Ich hätte Angst vor dem Erwachen. Angst, die fehlende Körperstelle ansehen zu müssen. Die Bettdecke an einer Stelle nicht gewölbt zu sehen. „Ich kann Amputationen nicht leiden“, die Anästhesistin reißt mich aus den Gedanken. „Ist eine brutale Sache“, antworte ich dumpf durch den Mundschutz hindurch. 
Ich erhebe mich, Dr. Funk setzt das Skalpell an. Nach und nach geht es immer fleißig Richtung Knochen. Die üblichen üblen Gerüche finden den Weg zu meiner Nase und werden im Gehirn gleich unter „kennste-is-nich-so-schlimm“ abgetan. Je weiter es Richtung Knochen geht, umso gelassener werde ich. Haben mich die letzten Wochen abgestumpft? Blödes Wortspiel, ich muss grinsen. Aber da sitzt einer in meinem Hinterkopf der ab und an immer mal wieder anklopft und sagt: „Was tust du hier? Was ist mit deiner zarten Seele? Musst du dir das ansehen?“ Ich muss. Aber ich werde in dem Moment wegsehen, wenn der Unterschenkel knapp unter dem Knie abgetrennt und ein Stück weggeschoben wird. So mein Plan. Noch sind wir nicht am Knochen. Ich wende mich der Anästhesistin zu und kehre dem Tisch den Rücken. Mitten im Gespräch über den Phantomschmerz lässt es einen dumpfen Schlag und etwas fällt hinter mir vom Tisch auf den Boden. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich glaube, ich bin gerade zusammengezuckt. Das Bein, das Bein. Ich drehe mich um und blicke auf ein Plastikkissen, es muss heruntergefallen sein. Ist wohl doch nicht ohne. Da tue ich so blutrünstig und dann sacke ich fast bei einem Geräusch zusammen. Beruhig dich. Nun wird gesägt. Wie zwei Männer im Walde halten beide Ärzte an einem Sägeband fest. Ritsch- ratsch- ritsch- ratsch geht es wenige Minuten. Dr. Funke scheint außer Atem und mit einem „Bloing“ ist er erlöst. Der Knochen ist durch. Nun sind es nur noch wenige Muskelstränge. Du wolltest wegsehen. Du siehst nicht hin, hast du gehört? Die Anästhesistin verschwindet hinter der Abdeckung. Ich starre. Mein Gewissen scheint es nicht durch die Schleuse geschafft zu haben, die Neugier und Faszination wartet hier aber bereits seit Wochen. Und dann bewegt er sich, der Fuße, wird zur Seite gedreht und verlässt seinen Platz. Kein Krachen, kein Knacken, leise und geschmeidig ist er vom Körper geglitten. Dr. Funke hält ihn in der Hand, ich starre noch immer und sehe, wie der Fuß samt Schienbein und Allerlei in einem eisernen Mülleimer verschwindet. Ich höre nichts. Keine Stimmen in mir. Wo ist der Ekel, wo sind die Tränen. „I believe I can fly“ klingt es aus aus den Musikboxen. Ich befinde mich auf dem Boden der Tatsachen. Habe etwas gesehen, was ich vielleicht noch einige Tage mit mir rumtragen werde. 
Ich verlasse mit dem Patienten den Raum. Wir gehen zusammen. Ich trage sein Bein in meinem Hinterkopf. Es hat ihm Schmerzen bereitet, nun quält es mich. Nicht das Bein, nicht das Blut, nicht die Gerüche und Geräusche. Ich schäme mich, weil ich es beeindruckend fand. Und weil ich zu schwach war, den Menschen im Bein zu sehen. 

Freitag, 17. September 2010

kennst du die fickdichfrau?



Es war gestern, K und ich auf dem Weg in die Stadt. Um die Geisterstunde. Man nehme eine gelbe U-Bahn, einen Vierer, zwei Jungs um die 16 Jahre und ein älteres Ehepaar. Man gebe ihnen fünf Minuten und fertig ist eine Szene, die das Leben nicht besser hätte schreiben können. Ich nenne sie Kevin und Klaus, Gertrud und Gunter. Die Generationspaare schienen nicht miteinander bekannt zu sein. Wir im vierer ein paar Meter weiter, K konnte sie sehen, ich konnte K sehen. Das reichte völlig aus.
Jung gegenüber alt. Kevin und Klaus plauderten lautstark, mussten sich aber verabschieden. Ich habe nicht gesehen wie sie das taten, hörte nur ein "fick dich" und sah ein schwaches Schmunzeln in K's Gesicht. Klaus verließ das Geschehen. "Na, das sagt man aber nicht", bemerkte Gertrud sehr richtig. Gunter schwieg. K beobachtete die Szene. "Doch, doch, das sagt man so", antwortete Kevin. Schweigen. Ich sah in ein doch sehr erheitertes Gesicht meines Gegenübers. "Kann man das denn so sagen?", fragte Gertrud Kevin ungläubig und doch interessiert. Ich hätte sie gerne gesehen, sicherlich an die 50 Jahre, rotes, vom colorieren ausgetrocknetes Haar und zartem Goldschmuck am Körper. Mit Jeansjacke. Es folgte ein kurzer Dialog. "Und was entgegnet man dem Gegenüber, wenn der "fick dich" sagt?" Ich war ganz Ohr und hätte mich nicht darum gerissen, darauf eine Antwort zu geben. Was sagt man auf solch eine Frage!? Und als wüsste sie um Kevins Verlegen- und Ratlosigkeit, beantwortete sie ihre Frage im Nu selbst: "Fick dich wieder?" Und dann folgte einer dieser extrem seltenen Augenblicke. Fast gleichzeitig brachen K und ich in Tränen aus, rungen um Fassung und beschlossen dann doch, unserer Freude am Geschehen freien Lauf zu lassen. Ich spürte förmlich mein Gesicht rot anlaufen, mein Blut schien in doppelter Geschwindigkeit durch den Körper zu fließen und Wasser trat sowohl aus Augen als auch Nase. 

Schwab/Bebelstraße. Es hieß Abschiednehmen. Von Gertrud und Gunter. "Ja dann gehen wir jetzt", äußerte Gertrud sich gegenüber Kevin. "Ja ok." Gunter schwieg. Ich bin mir nicht sicher, ob Kevin schon etwas getrunken hatte. Gertrud zu Kevin: "Ja dann musst du jetzt auch fick dich sagen, wenn ich aussteige." Kevin zu Gertrud: "Ja ok... dann... fick dich." 
Kevin 16, Gertrud 50. Es dauerte keine 100stel Sekunde und ich sackte fast kreischend vornüber. Versuchte mich zu fangen. Blickte auf meine rote Tasche. Versuchte mich zu konzentrieren. Hatte er- hatte er- ich kam nicht nach, meine Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Und wie ich es von Gertrud nicht anders erwartet hätte, antwortete diese ganz trocken: "Fick dich wieder." 

Donnerstag, 16. September 2010

Klinik-Bahn-Heimweg-Gedanken:

_Früher bin ich nur mittig auf Bodenplatten getreten, nun versuche ich immer die Nähte und Ritzen zu treffen.
_Das iPhone wird immer mit der Displayseite am Körper getragen, egal ob im Mantel oder in der Tasche.
_Es pinkelt sich nicht gut, wenn andere zuhören. Dementsprechend ändert man meist seine Sitzposition auf der Schüssel.
_Große Augen sind erst ab 7:30 Uhr vollständig geöffnet.
_Sich mit einem totkranken Menschen über das Leben zu unterhalten ist nicht unterhaltsam. Ihm seine Vene kaputtzustechen irgendwie gemein.

Dienstag, 14. September 2010

Montag, 13. September 2010


Manchmal kann man nur starren vor Faszination und nicht wegsehen vor Ekel. Manchmal ist das Blut roter als sonst, der Magen flauer als morgens und die Raumtemperatur kälter als letzten Winter. Manchmal kann man nicht reden vor Flut, nicht Lachen vor Erstaunen, nicht Weinen vor Grauen. Manchmal kann man nicht schlafen vor Freude, nicht erwachen vor Wut. Manchmal hat man einen Tag wie keinen zuvor. Manchmal kann man nur noch einatmen trotz Ventil. Manchmal fehlt einem Nichts weil alles vollkommen ist. Manchmal ist heute. 

Samstag, 11. September 2010





Liebe Station 2b,
ich wollte euch nur darauf aufmerksam machen, dass ich morgen mit Fieber arbeiten werde. Da ich auf meine 160 Stunden kommen muss, komme ich leider nicht in den Genuss, mich zu erholen. Vielleicht wäre der allzu nahe Patientenkontakt nicht von Vorteil. Dazu zählt Essen bringen, Waschen, Anreichen, Betten machen, Vitalwerte messen, EKG schreiben, Infusionen anhängen und Braunülen ziehen. 
Darf ich auf Grund dessen vielleicht mal was Spannendes machen?
Bis morgen um halb sieben,
eure Praktikantin.

dahlienfieber.





Ich mag Blumen. Besonders an Sonntagen, an sonnigen Sonntagen. Unter der Woche sehe ich keine Blüten, auch keine Bäume. Kein Auge für die Natur, nur für die Arbeit, für die Menschen. Doch Sonntags ruht die Arbeit, ruhen die Menschen. Dann meldet sich die Natur, zeigt sich pur, von der schönsten Seite. Blüte an Blüte, Farben über Farben. Ich blicke in offene Gesichter. Sie lachen, ich lache. 

Freitag, 10. September 2010

Giulia Tempelhof.





Zwei klinikgebrannte Kinder machen einen Ausflug. Entspannung statt Infusionen, Nachdenken an Stelle von Nadeln und Sonnen statt Sonden. 
Mit Kaffee und Kamera wird Bahngefahren. Und über die Liebe gesprochen. Giulia, das häuft sich zur Zeit, aber das ist der Herbst, ganz sicher. Sobald es kühler wird kommen die warmen Gedanken. Aber Giulia und ich beschließen, uns des Tages zu erfreuen und die schönen Augenblicke festzuhalten. Völlig reizüberflutet blicken wir auf riesige Dahlienfelder. Maria, sieh dir diese an. Giulia, ist die Farbe nicht atemberaubend? Wie Bienen fliegen wir von einer Blüte zur nächsten. Dann geht es weiter zum Flugplatz. Der Flughafen Tempelhof ist stillgelegt und still hinlegen war auch unsere Idee. Papierflieger basteln, über die Rollbahn springen und die Weite genießen. 
Wir sind lange geblieben. Zwar hatten wir Langes an aber die Kälte kroch doch immer mehr über den Asphalt. Am Ende bleiben zwei erfüllte Klinikkinder und jede Menge Erinnerungsbilder.


Donnerstag, 9. September 2010

standpunkt sonne.


Frau Vogel


Frau Vogel hat es nicht leicht, ist bleich und geknickt. Metastasen im ganzen Körper rasen dem Tod entgegen. Dr. Lieb versucht sein Bestes, sie lehnt ab. Alle Versuche, ihr eine Zukunft einzureden, scheitern. Keine weiteren Tage, Wochen oder Jahre lassen sie aufhorchen, es ist nichts zu rütteln, Erschüttern auf Medizinerseite. Wer nicht will, hat schon. Sie möchte nicht, hat schon aufgegeben. Im Alter von dreißig.

Frau Vogel scheint mich nicht zu sehen. Ihre Augen sind weit aufgerissen, die Wimperntusche zeichnet einen schwarzen Schatten auf ihre Wangen. „Frau Vogel, benötigen Sie Schmerzmittel?“ Ich erwarte keine Antwort, wie schon in den letzten Tagen. Warten statt Erwarten. Sie sitzt aufrecht, während andere liegen, wacht, wenn andere schlafen. Schweigt, während andere um Hilfe schreien.

Bei der Übergabe übergeht die Nachtschicht Frau Vogel. Kein Wort zur wortlosen Frau. Mir ist schlecht. Ich hätte etwas frühstücken sollen.
Frau Vogel's blondes Haar ist gekämmt, die dunkle Tusche unter den Augen ist verschwunden. Innere Ruhe, innerer Frieden. Sie atmet leise, fast heimlich. Das Flügelhemd liegt auf dem Boden, sie trägt schwarz mit Kragen. Ich sehe sie an, flehe sie an. Laute Gedanken und stumme Worte. Keine Antworten auf fehlenden Fragen. Sie erhebt sich, gleitet zum Fenster, sieht hinaus, sieht hinauf. Immer wieder. Der Blick nach oben.

Geht sie?

„50 Euro, dass Frau Vogel heute springt.“

Ich gehe.

Mittwoch, 8. September 2010

rollfeld.



nacht zum tage.


seit montag heißt es, die nacht zum tag zu machen. um 4:30 klingelt der wecker, um 15:00 wird der feierabend eingeläutet. eigentlich. eine leiche zum frühstück, müdigkeit zum abendbrot. pflegen ist nicht meins. ich lache, ich kümmere mich, ich höre zu, ich spiele die dementen spielchen gerne mit. aber am samstag ist ende. ende auf station, ende mit der angst vor dem morgen. 

Sonntag, 5. September 2010

rot_grau.





mein erstes mal im waschsalon. was in den filmen bunt und lebendig wirkt ist bei mir rot- grau und dauert 30 minuten. ich setze mich, sehe mein spiegelbild im fenster. draußen ist es dunkel und ich befinde mich in einem aquarium. von außen wird gestarrt, innen zieht man nur langsam seine bahnen. alle fünf minuten ein aufstehen, auf die uhr sehen und wieder zurück ruhig verharren. samstag abends scheinen die berliner nicht ihre wäsche zu waschen. keine menschenseele nur das rumoren meiner zwei maschinen. ein letztes schleudern, dann erstaunen. nasse wäsche wiegt schwerer als trockene. hätte ich in physik augepasst. wieder gefasst verlasse ich die trommeln, die straßen entlang und die stufen hinauf. für heute ist alles gelaufen. 

Donnerstag, 2. September 2010

nur ernst.




vom suchen und fluchen.


„ich hab dir ein lecker pralinsche‘ mitgebracht“ flötet ein ra und schiebt mir einen äußerst alkoholisierten menschen vor die füße. es riecht nach erbrochenem, nach billigem schnaps. er lallt: 
„ich bin so froh, hier bei ihnen zu sein.“ (das glaube ich) 
„wissen sie, ich habe ein wenig viel getrunken.“ (das glaube ich auch)
„ich glaube, ich kann nicht mehr.“ (oje)
viele schicksale, viele krankheiten, viele keime. ich steure mit handschuhen dagegen. sie schützen vor krankheit und keimen, das persönliche übel bleibt haften. 

ich schreite nach draußen, es ist 22 uhr. einmal tief luftholen, und schon holen sie mich ein. die bilder, die gerüche. das geschrei und das gefluche. aber es ist das, wonach ich suchte. eine sucht?