Samstag, 18. September 2010

Der Mensch im Bein.


Ich blicke auf den Op- Plan. Heute Morgen hatte ich ihn nur flüchtig überflogen, da ich doch etwas verspätet und gehetzt durch die Schleuse stolperte. Und nun beginnt mein Herz zu schlagen. Ganz schnell, ganz aufgeregt, es springt fast aus mir heraus. Amputation linker Unterschenkel. Da steht es schwarz auf weiß. Phillip sieht zu mir rüber, lacht: „Kieckste an, wa?“ Ich nicke stumm. 
Unter der Maske ist es warm fast stickig, während es im Op immer kühler zu werden scheint. Ich blicke in immer kürzer werdenden Abständen Richtung Schleuse. Wann kommt er? Als ich ihn sehe verlasse ich den Op durch die Hintertür. Ich möchte ihm nicht in die Augen sehen, ihm keinen Zugang legen und dabei fest seine Hand halten. Er soll ohne mich in die Narkose gehen. Gerade gibt es keinen Platz für die gefühlvolle Maria. 
Sein Fuß ist verbunden, ich erahne, dass sich totes und vergiftetes Gewebe darunter befindet. Noch sitze ich. Frage mich, wie es sich wohl anfühlt, als ganzer Mensch in einen Raum gefahren zu werden und mit einem Körperteil weniger herauszukommen. Ich hätte Angst vor dem Erwachen. Angst, die fehlende Körperstelle ansehen zu müssen. Die Bettdecke an einer Stelle nicht gewölbt zu sehen. „Ich kann Amputationen nicht leiden“, die Anästhesistin reißt mich aus den Gedanken. „Ist eine brutale Sache“, antworte ich dumpf durch den Mundschutz hindurch. 
Ich erhebe mich, Dr. Funk setzt das Skalpell an. Nach und nach geht es immer fleißig Richtung Knochen. Die üblichen üblen Gerüche finden den Weg zu meiner Nase und werden im Gehirn gleich unter „kennste-is-nich-so-schlimm“ abgetan. Je weiter es Richtung Knochen geht, umso gelassener werde ich. Haben mich die letzten Wochen abgestumpft? Blödes Wortspiel, ich muss grinsen. Aber da sitzt einer in meinem Hinterkopf der ab und an immer mal wieder anklopft und sagt: „Was tust du hier? Was ist mit deiner zarten Seele? Musst du dir das ansehen?“ Ich muss. Aber ich werde in dem Moment wegsehen, wenn der Unterschenkel knapp unter dem Knie abgetrennt und ein Stück weggeschoben wird. So mein Plan. Noch sind wir nicht am Knochen. Ich wende mich der Anästhesistin zu und kehre dem Tisch den Rücken. Mitten im Gespräch über den Phantomschmerz lässt es einen dumpfen Schlag und etwas fällt hinter mir vom Tisch auf den Boden. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich glaube, ich bin gerade zusammengezuckt. Das Bein, das Bein. Ich drehe mich um und blicke auf ein Plastikkissen, es muss heruntergefallen sein. Ist wohl doch nicht ohne. Da tue ich so blutrünstig und dann sacke ich fast bei einem Geräusch zusammen. Beruhig dich. Nun wird gesägt. Wie zwei Männer im Walde halten beide Ärzte an einem Sägeband fest. Ritsch- ratsch- ritsch- ratsch geht es wenige Minuten. Dr. Funke scheint außer Atem und mit einem „Bloing“ ist er erlöst. Der Knochen ist durch. Nun sind es nur noch wenige Muskelstränge. Du wolltest wegsehen. Du siehst nicht hin, hast du gehört? Die Anästhesistin verschwindet hinter der Abdeckung. Ich starre. Mein Gewissen scheint es nicht durch die Schleuse geschafft zu haben, die Neugier und Faszination wartet hier aber bereits seit Wochen. Und dann bewegt er sich, der Fuße, wird zur Seite gedreht und verlässt seinen Platz. Kein Krachen, kein Knacken, leise und geschmeidig ist er vom Körper geglitten. Dr. Funke hält ihn in der Hand, ich starre noch immer und sehe, wie der Fuß samt Schienbein und Allerlei in einem eisernen Mülleimer verschwindet. Ich höre nichts. Keine Stimmen in mir. Wo ist der Ekel, wo sind die Tränen. „I believe I can fly“ klingt es aus aus den Musikboxen. Ich befinde mich auf dem Boden der Tatsachen. Habe etwas gesehen, was ich vielleicht noch einige Tage mit mir rumtragen werde. 
Ich verlasse mit dem Patienten den Raum. Wir gehen zusammen. Ich trage sein Bein in meinem Hinterkopf. Es hat ihm Schmerzen bereitet, nun quält es mich. Nicht das Bein, nicht das Blut, nicht die Gerüche und Geräusche. Ich schäme mich, weil ich es beeindruckend fand. Und weil ich zu schwach war, den Menschen im Bein zu sehen. 

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